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Dankesrede von Michel Serres - deutsch -

Veröffentlicht am 23.02.2014
Plädoyer für die Verschmelzung





Dankesrede von Michel Serres anlässlich der Verleihung
des Meister Eckhart Preis 2012




Liebe Freunde,

berührt von Ihrer Großzügigkeit möchte ich Ihnen zum Dank von meiner lebendigen Beziehung zu Deutschland erzählen und Ihnen den Traum offenbaren, zu dem mich diese von Vernunft und Leidenschaft zugleich genährte Liaison inspiriert hat.

Mein Leben

Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges war ich neun Jahre alt und 15, als er endete. Damit habe ich die Mobilmachung, die rasche Kapitulation, die Besatzungszeit, die Entbehrungen und die Bombardements erlebt; ich sah die Flüchtlinge ankommen und die Deportierten fortgehen; ich habe von den Säuberungsaktionen erfahren und die Nürnberger Prozesse verfolgt. Ich habe als Kind unter den Tragödien, die unsere beiden Völker zu Gegnern machten, so sehr gelitten, dass es mir nicht möglich war, Deutsch zu lernen, eine Sprache, die ich dennoch später zu lieben, zu respektieren und zu bewundern vermochte. Meine frühen Lebensjahre wurden von diesem Konflikt und denjenigen, die ihm vorangingen und nachfolgten, zutiefst berührt. Mehrere abscheuliche Kriege haben meinen Körper, meine Knochen, mein Fleisch und mein Blut geformt und meine Seele nach Frieden streben lassen.
Während der 1950-er bis 1970-er Jahre habe ich mich als Erwachsener aus ganzem Herzen für die Aussöhnung engagiert. In meinen Kursen, die ich als Professor in Paris hielt, lernte ich viele deutsche Studentinnen und Studenten kennen, die mir über die Jahre zu Freunden wurden und damals krank vor Schuldgefühlen waren. Ich habe sie getröstet. „Wovon sprecht ihr?“, frage ich sie. „Wir haben vergessen!“ Die Geschichte verlangt zwar nach einer Pflicht zur Erinnerung, das Leben jedoch fordert die Pflicht des Vergessens ein.
Seit 60 Jahren herrscht ein historisch seltener Frieden in Westeuropa, der aus Hass hat Freundschaft werden lassen. 85 Prozent der hier geschlossenen binationalen Ehen vereinen französische und deutsche Partner. Jedes Mal, wenn ich mich nun von Frankreich in Ihr
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Land begebe, überschreite ich die Scheidelinie, welche einst die Grenze zwischen uns zog. Inzwischen ist sie unscheinbar geworden und es gibt weder Wächterhäuschen noch Grenzbeamte oder irgendeine Art der Kontrolle. Dies ist im Gefühl des Augenblicks ein paar Tränen wert, und ich kann nicht umhin zu weinen. Welche Freude ist es doch, nicht mehr voneinander getrennt zu leben! Welch ein Fortschritt verglichen mit der Zeit, in der wir noch auf diesem Boden Millionen von Toten hinterließen!
Ich bin stolz, der Generation anzugehören, die Vorbildern wie Adenauer oder Schumann folgt, welche sich ihr Leben lang dafür einsetzten, zwei von Schlachten zerrissene Länder einander wieder näher zu bringen – Schlachten, die viele für kollektiven Suizid halten. Aus vielerlei Gründen, aber vor allem getragen von dieser pazifistischen Grundeinstellung, zeige ich mich Ihnen als überzeugter Europäer.
Doch voller Ungeduld träume ich heute von dem nächsten folgerechten Schritt, nämlich der Verschmelzung. Gemeinsam sollten wir den nächsten Entwicklungsschritt der Europäischen Union angehen. Ich wünsche mir eine vollständige Vereinigung von Deutschland und Frankreich oder vielmehr der Deutschen und der Franzosen. Diese Unterscheidung werde ich im weiteren Verlauf erklären.
Welche Gründe führen zu dieser wünschenswerten, möglichen oder vielleicht sogar notwendigen Vereinigung?

Unsere Geschichte

Deutsche und Franzosen halten sich bisweilen für sehr verschieden. Ich reise viel um zu lehren und lebe seit langem in den Vereinigten Staaten. Vielerorts begegne ich Emigranten wie mir. Aus unserer europäischen Selbstwahrnehmung heraus sind wir uns kaum noch bewusst, dass uns eine gemeinsame, die Differenzen überbrückende Kultur beseelt und vereint. Von außen betrachtet ist viel augenscheinlicher, welche gemeinsamen Charakterzüge uns einander näher bringen.
Wir sind Völker von Denkern, Wissenschaftlern und Ingenieuren, die sich beispielsweise von den Briten, welche viel empirischer und skeptischer sind, deutlich unterscheiden. Das kartesianische Denken französischer Couleur steht dem deutschen Idealismus nahe und unsere Philosophie des Lumières der deutschen Perspektive der Aufklärung. Beides ist Ausdruck eines passionierten Vertrauens in die Vernunft. Die Neugründung der Universitäten in Deutschland im 19. Jahrhundert wurde durch die Erfolge der französischen Wissenschaft vor und nach der Revolution angeregt. Unsere gemeinsame kulturelle Geschichte zeigt eine parallele und oft brüderliche Blütezeit von Mathematikern, Physikern, Biologen, Geschichts-
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und Geisteswissenschaftlern … Wir stellen uns der Abstraktion und wissen ihr zum Leben zu verhelfen; daher die vielen formalen und praktischen, technischen und industriellen Erfindungen.
Eine zweite Annäherung: Wir haben denselben Respekt vor dem Staat und vor dem Gesetz. Gewiss, die Frage der Dezentralisierung wird auf der rechten Seite des Rheins flexibler gehandhabt als in Frankreich; hingegen hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe mehr Befugnisse und eine größere Unabhängigkeit als unser Verfassungsrat.
Eine dritte Annäherung, und zwar die Religion betreffend: Wir haben den christlichen Dualismus zwischen Katholiken und Protestanten erlebt und erleben ihn immer noch. Mehr Lutheraner auf der einen Seite des Rheins, mehr Calvinisten auf der anderen. Ich habe oft an die Aufhebung des Ediktes von Nantes gedacht, die beispielsweise in Berlin die Zuwanderung von aus Frankreich emigrierten Familien begünstigte. Unsere Kriege, waren sie nicht längst Bruderkriege?
Letztendlich sind wir voneinander fasziniert. Die Franzosen bewundern die wirtschaftlichen und industriellen Erfolge der Deutschen, und die Deutschen interessieren sich für die französische Lebensart, die sie bisweilen für glücklicher halten als die eigene. Die Autos auf der einen Seite, der Käse und der Wein auf der anderen! Beethoven hier, die Impressionisten dort. Diese Faszination kann jedoch auch kritische Formen annehmen: Sie verabscheuen unsere Disziplinlosigkeit, wir können Ihre Gehorsamkeit nicht ausstehen. Die Anziehungskraft, selbst wenn sie mit dieser Art von Heftigkeit verbunden ist, charakterisiert sie nicht genau die Leidenschaft der Liebe?
Doch das ist Geschichte, und es handelt sich um eine Art ‚vereinbarter‘ Klischees.

Sprechen wir doch lieber von der Gegenwart.

Das Vorhaben

Unsere Verschmelzung kann man als Frucht der von mir beschriebenen positiven Entwicklung verstehen, doch trägt sie auch eine Notwendigkeit in sich, da unsere beiden Länder sich Gefährdungen aussetzen. Frankreich ist seinerseits in wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Mein Land hat sich für die großen Konzerne entschieden, und der Mangel an kleinen und mittelständischen Unternehmen beeinträchtigt unseren Handel erheblich. Wir durchlaufen eine ernsthafte Krise der Deindustrialisierung. Deutschland hingegen hat in dieser Frage die richtigen Entscheidungen getroffen und erntet jetzt die Früchte. Ihr Land ist wirtschaftlich gesünder als alle anderen europäischen Länder und zieht von dort Arbeitskräfte an. Dennoch durchläuft es seinerseits eine durch Geburtenrückgang
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verursachte demographische Krise, während Frankreich eine vergleichsweise gute Geburtenrate aufweist.
Wir sind also in Gefahr – der eine wie der andere – und geben das nur ungern zu, weil
wir weiterhin Modellen folgen, deren Exzellenz uns in der Vergangenheit zwar hat erfolgreich sein lassen, die aber für unsere gegenwärtige Welt immer weniger geeignet scheinen. Ich befürchte, dass wir uns unser eigenes Grab schaufeln, wenn wir die Chancen, die aus unserer gemeinsamen Kultur erwachsen, weiterhin an uns vorüberziehen lassen.

Da wir uns also beide in Gefahr befinden, können wir uns nicht gegenseitig retten?
Ja. Verschmelzen wir.
Aber wie?

Veraltete Ideen

Diese Vereinigung sollte weder die Form einer Nation noch die des Vaterlandes annehmen, da die historisch damit verbundenen Emotionen und Ideen bis in die jüngste Vergangenheit bereits zu viele Kriege und Tote nach sich gezogen haben. Das berauschende Gefühl der Zugehörigkeit wäre mit schrecklichen menschlichen Verlusten erkauft. Wie ich eingangs erwähnte, sollten wir weniger in Kategorien wie Gemeinschaften, Ländern, Einheiten, Gebieten oder Landkarten denken, sondern vielmehr an die Menschen denken.
Die Verschmelzung müsste sich also auf direktem Wege zwischen den Deutschen und den Franzosen ergeben, das heißt unmittelbar von Individuum zu Individuum vollzogen werden.

Geschichte des Wandels

Wir müssen eine neue gemeinschaftliche Dynamik erschaffen, vielleicht sogar neue Institutionen. Alle früheren – sowohl Ihre als auch unsere – sind mit zwei zu Ende gehenden Ären, nämlich der des Schrifttums und der des Druckes, verbunden.
Es gab eine Zeit, in der die Heroen ihre Botschaften mündlich überlieferten, indem sie die unsterblichen Heldentaten von Gilgamesh, den Zorn des Achilles als Krieger oder die Listen des Odysseus als Seefahrer besangen. Allein Hirn und Körper dienten als Gedächtnis und als Vehikel für die Botschaften. Wenn ein Greis verstarb, betrauerte man mit seinem Ableben gewissermaßen den Verlust einer ganzen Bibliothek von Erinnerungen und Erlebnissen. Diese Ära könnte man als Zeitalter der mündlichen Überlieferung betrachten.
Die Erfindung der Schrift – durch die Ideen und Gedanken von Menschenhand in Marmor und Stein gemeißelt, auf Schriftrollen und in handschriftlichen Büchern festgehalten

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wurden (wie beispielsweise die von Meister Eckhart hinterlassenen Lehren) – hat alle früheren Institutionen, die weitgehend dem Vergessen anheim gefallen sind, völlig verändert. Sie ermöglichte das Verfassen von Gesetzestexten, die Entstehung von Staaten, die Zentralisierung der Städte, die Organisation der Bildung, sicherlich auch die wundersame Geburt der Geometrie in Griechenland und die aus der Feder der Propheten geflossene Offenbarung eines einzigen Gottes in Israel.
Die Erfindung des Drucks, die zur maschinell gestützten Verbreitung von Botschaften führte, rief ähnliche Umbrüche hervor, nämlich juristische, wirtschaftliche, politische, aber auch die Anfänge der von der mathematischen Physik angeführten modernen Wissenschaft. Diese Erfindung hat die Reformation ermöglicht; dabei hat Martin Luther seine Schriften in deutscher Sprache drucken lassen. Der Leitsatz der Reformation könnte in dem ironischen und heute sicherlich diskussionswürdigen Ausspruch „Jeder Mensch ist ein Papst, eine Bibel in der Hand“ zusammengefasst werden. Aus seinem satirischen Kontext herausgelöst, lässt er bereits eine gewisse Erneuerung der Demokratie erahnen. Der Zugang zu Büchern und damit zu Wissen ebnete den Weg, sich von der Bürde der gewaltigen Überlieferungen zu befreien. Oder wie Montaigne sagte: „Besser einen gut geschulten als einen zu gefüllten Kopf.“ Wo sich plötzlich der Einzelne in die Lage versetzt sah, die Entscheidungen der Obrigkeit zu hinterfragen, wurde deren Autorität brüchig.
Heute erleben wir den vierten Akt dieser tausendjährigen Geschichte, welche uns von der mündlichen über die (hand)schriftliche und die gedruckte Überlieferung schließlich ins digitale Zeitalter führte. Die technologischen Neuerungen, die die Verbindung zwischen der Botschaft und ihrem Träger erneut verändert haben, ziehen bereits jetzt Umbrüche nach sich – und werden dies auch in Zukunft tun –, die genauso stark sind wie diejenigen, welche dem Menschen von den beiden vorangehenden Zeitaltern in allen Bereichen aufgezwungen wurden: Recht, Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Bildung und Religion … Zwar an sich hervorragend und auf breiter Basis anerkannt, erweisen sich unsere demokratischen Prinzipien heutzutage als wirkungslos, weil sie den Rahmenbedingungen vergangener Zeiten folgen. Wir erleben ein neues Entwicklungsstadium, in dem sich die Stimme jedes Einzelnen äußert, und das viel zahlreicher als noch zu Luthers Zeit – und darüber hinaus in Echtzeit. Die neuen Technologien verändern unser Leben genauso entscheidend wie einst der Übergang von der mündlichen zur schriftlichen Überlieferung oder von der Handschrift zum Buchdruck.
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Öffentlicher Aufruf

Wie ich bereits gesagt habe, sind wir zwei Völker von Erfindern, Entwicklern und Entdeckern. Lassen Sie uns gemeinsam wirken, um einer neuen Form des Zusammenlebens und des menschlichen Daseins zum Durchbruch zu verhelfen. Meine Vorstellung einer Verschmelzung kann und will ich nicht alleine mit Leben erfüllen. Wir leben nicht mehr in Zeiten, in denen Gesetzgeber, Schriftsteller oder einsame Denker dem Volk, für das sie zu sprechen glauben, ihre Vorstellungen überstülpen können. Ich hätte vorwegnehmen müssen, dass der wahre Schatz eines Landes sicherlich in seinen politischen oder wirtschaftlichen Traditionen liegt, aber vor allem in seinen lebendigen Individuen: in den Frauen, ihrem Talent und ihrer offenen Güte; in den Greisen und ihrer Erfahrung; in den Kindern und ihrer Frische; sowie in den Männern und ihrer erfinderischen Geisteskraft.
Ich träume daher nicht von einer Verschmelzung von Deutschland und Frankreich als zwei Nationen mit je eigenen Grenzen und Regierungen. Vielmehr möchte ich von zwei Konzepten, zwei Veranlagungen sprechen. Ich möchte also keine neue Karte entwerfen, da der reale Raum einen Ort der Ausgrenzung darstellt, sondern eine neue Verbindung herstellen zwischen Deutschen und Franzosen, noch besser, zwischen Rheinländern, Bretonen, Bayern, Elsässern … in Form eines virtuellen Raumes, in dem wir alle einander zu jeder Zeit begegnen können.
Ich träume davon, dass wir, unserer Zeit entsprechend indem wir die neuen Technologien nutzen, interaktiv zusammenarbeiten und der Vielzahl unserer Stimmen Gehör zu verschaffen; dass wir ein neues Konzept erdenken, welches das der Nation ersetzen kann und andere, an das Computerzeitalter angepasste Entscheidungsformen ebenso beinhaltet wie grundlegende neue Gestaltungsweisen für die Gesellschaft, das Gesundheitswesen, die Landwirtschaft, die Industrie, den Handel, die Umwelt, das Bildungswesen, die Kultur und die Wissenschaft.
Wir müssen alles neu erfinden, da wir in Zeiten leben, in denen sich alle Bereiche unseres Lebens grundlegend verändert haben: der Umgang mit der natürlichen Umgebung und damit das In-der-Welt-Sein, die städtische Gesellschaft und folglich die Staatsbürgerschaft, die Medizin und die Lebenserwartung, die Beziehung zur Geburt und zum Tod, das Verkehrsaufkommen, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die kulturelle Vielfalt, der Umweltschutz … Alles muss neu erfunden werden, und zwar in einem Umfeld, das sich vollständig von dem unterscheidet, in dem unsere veralteten Institutionen entstanden sind, welche uns in einer Art von Trägheit nach wie vor dienen. Wirklich alles muss neu gestaltet werden, denn selbst die neuen Technologien zollen noch den
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vergangenen Zeiten Tribut, nämlich einer Marktwirtschaft, in der es noch keinen Zusammenhalt gibt.
Lassen Sie uns zusammen neue gemeinschaftliche Räume eröffnen. Appellieren wir in diesem Sinne an unsere Schwestern und Brüder, und zwar an jeden Einzelnen.
Der Eingriffe überholter Gesellschaftsstrukturen derart überdrüssig, wie viele Völker würden es uns gleich tun, wenn wir mit dieser Utopie Erfolg hätten, wenn wir gemeinsam eine neue Realität unserer Zeit erschaffen?
MICHEL SERRES

(Übersetzung: Dr. Maxime Mauriège)